Das Seifenkistenrennen
Von Axel Baumgart
Bregenbrett und Drögenbröt
lagen wie bekannt sehr nah bei einander. Andere Dörfer gab es in der näheren
Nachbarschaft auch nicht. Das ist der Grund, weshalb bei Wettkämpfen immer
diese beiden Dörfer gegen einander antraten. Genau wie der
Schimpfwortwettbewerb fand einmal im Jahr ein Seifenkistenrennen statt. Der Schimpfwortwettbewerb
war der Wettkampf für Erwachsene. Beim Seifenkistenrennen traten Kinder
gegeneinander an. Zunächst wurde in den zwei Wochen vor den entscheidenden
Rennen die Rennstrecke präpariert, alle Steine und Äste wurden entfernt, damit
die Rennkisten nicht beschädigt wurden und es ein schönes, schnelles und faires
Rennen geben konnte. Unmittelbar hinter Drögenbröt lag der Drögenberg, der mit
seinen Hängen und Abfahrten das ideale Gebiet für ein Seifenkistenrennen war.
Vor dem entscheidenden Rennen
„Bregenbrett gegen Drögenbröt“ musste jedes Dorf erst das Kind ermitteln,
welches für das jeweilige Dorf antreten durfte. Das war aufregend und alle
konnte schon einmal die Strecke, die jedes Jahr eine andere war, kennen lernen
und versuchen, die beste Renntaktik heraus zu finden. Traditionell begann der
Sieger des letzten Jahres mit den Vorausscheidungen. Da Nicki aus Drögenbröt
letztes Jahr gewonnen hatte, begann Drögenbröt. Die Ausscheidungsrennen waren
sehr spannend und im alles entscheidenden Rennen traten Nicki und Legaus Freund
Jona gegeneinander an. Legau drückte Jona die Daumen und schaute sich genau an,
wie er die Kurven herunter raste. Es war eine tolle Strecke, die die
Erwachsenen aus Bregenbrett dieses Jahr abgesteckt hatten. Es gab viele Kurven,
ein ganz steiles Stück und sehr viele Möglichkeiten zu überholen. Zuerst sah es
so aus, als ob Nicki gewinnen würde, aber kurz vor der Ziellinie konnte Jona
einen Fahrfehler von Nicki nutzen und zog an ihm vorbei. Zum ersten mal in
seinem Leben würde Jona das Seifenkistenrennen gegen Bregenbrett fahren. Somit
stand der erste Finalteilnehmer fest. Jona war sehr stolz und Legau gratulierte
seinem Freund.
Jetzt musste Bregenbrett
seinen Fahrer ermitteln. Legau war der klare Favorit, denn er hatte in den letzten
beiden Jahren immer für Bregenbrett fahren dürfen, und vor zwei Jahren sogar
das Rennen gegen Drögenbröt gewonnen. Auch dieses Jahr war er wieder der
schnellste. Es war ein komisches Gefühl, gegen seinen besten Freund antreten zu
müssen. Die Rennen waren sehr schnell und manchmal berührten sich die
Seifenkisten in den Kurven sogar. Vor ein paar Jahren hatte es zwischen den
Fahrern sogar nach dem Rennen eine richtige Rauferei gegeben, weil beide
dachten, der andere sei unfair gefahren. Legau wollte keinen Streit mit seinem
Freund.
Der Wettkampf zwischen den
beiden Dörfern folgte einem sehr strengen Reglement. Zuerst kam eine
theoretische Prüfung aus 5 Fragen. Für jede Frage, die ein Fahrer mehr richtig
beantwortet hatte, als der andere, bekam er bei dem Rennen 1 Sekunde Vorsprung.
Es war also wichtig, möglichst viele Fragen richtig zu beantworten. Wie immer
würde Bernd Brötelbuck als Schiedsrichter darüber wachen, dass alles fair und
sportlich ablief. Genau um drei Uhr nachmittags stellte er die erste Frage:
„Woher
kommt der Name Seifenkistenrennen?“
Jona
und Legau antworteten wie aus der Pistole geschossen gleichzeitig: „Amerika!“
und Jona fügte noch hinzu: „Das waren früher wirklich Kartons von Seifen oder
Waschpulver!“ und Legau ergänzte: „Genau, diese Rennen wurden ursprünglich zu
Werbezwecken organisiert!“
Das
gab für jeden von beiden einen Punkt. Die nächste Frage war schon schwieriger:
„Wo fand in Europa das erste Rennen statt?“
Legau
antwortete sehr schnell: „Amerika!“
Jona
ließ sich etwas mehr Zeit und sagte: „In Amerika war zwar das erste Rennen,
aber Amerika ist nicht in Europa. Ich glaube es war in Frankreich.“
Das
gab einen Punkt für Jona, der jetzt mit 2 zu 1 führte.
„Welche
Klassen gib es bei den Seifenkisten?“ fragte Bernd Brötelbuck als nächstes.
Jona sagte nach kurzem Zögern: „Drögenbröt und Bregenbrett?“
Legau
überlegte etwas länger und sagte: „Es gibt Seifenkisten in zwei verschiedenen
Größen- und Gewichtsklassen, in denen Kinder in unterschiedlichen Altersklassen
fahren können. Die Seifenkisten fahren auch unterschiedlich schnell. Wir haben
hier die kleinere Klasse.“
Das war eine tolle Antwort. Damit stand es nun
unentschieden und die letzte Antwort musste den Ausschlag geben: „Warum müsst
ihr bei den Rennen einen Helm tragen?“
Legau
sagte sofort: „Damit meine Mama nicht schimpft.“ Und Jona sagte danach:
„Quatsch, damit wir im Regen keine nassen Haare bekommen.“ Natürlich wussten
beide, dass der Helm notwendig war, um ihren Kopf bei den rasanten Abfahrten zu
schützen. Aber beide waren zu stolz, um sich für eine so leichte Frage einen
Punkt geben zu lassen. Diese Frage kam jedes Jahr, und solange sich Jona und
Legau zurück erinnern konnten, war sie jedes Jahr absichtlich falsch
beantwortet worden, weil sie so leicht war. Das war schon Tradition. Den
Fahrern reichte es zu wissen, warum sie einen Helm brauchten. Dafür wollten sie
keinen Punkt bekommen.
Bei
einem Unentschieden wie jetzt würden die Fahrer gleichzeitig auf die Strecke
gehen und es würde ein sehr spannendes Rennen werden. Legau dachte, dass er
gerne einen kleinen Vorsprung gehabt hätte, denn Jona war wirklich ein guter
Fahrer. Jona dachte genau dasselbe von Legau. Als sie in ihren selbstgebauten
Seifenkisten auf der Startlinie standen, schaute Legau Jona an und sagte:
„Ich
wünsche dir alles Gute und viel Glück!“
Jona
antwortet: „Wenn ich schon verlieren muss, dann am liebsten gegen dich.“
Nach
dem traditionellen Startkommando: „ACHTUNG
- FERTIG - AB
DIE POST!“ lösten beide gleichzeitig ihre Bremsen und die Rennkisten setzten
sich in Bewegung. Zuerst noch ganz langsam, dann immer schneller fingen sie an
zu rollen. Da Jona etwas schwerer war als Legau, war er in der ersten Kurve
leicht vorne und konnte als Erster einbiegen. Legau hatte sich etwas verschätzt
und zu spät gebremst. Es sah fast so aus, als würde es zu einem der seltenen
Unfälle kommen, weil Legau die Kurve nicht auf der Ideallinie durchfahren
konnte. Er würde in die Fahrbahn von Jona kommen und es würde einen Unfall
geben. So sah es zumindest aus. Aber Jona hatte die Situation erkannt und
bremste hart ab. Dadurch verlor er seinen gesamten Schwung und wurde sehr
langsam. Auf diese Weise konnte Legau vor ihm seine Fahrbahn kreuzen, ohne dass
es einen Unfall gab. Aber nun lag Legau in Führung. In gewagtem Tempo schossen
beide den Berg hinunter. Jona hatte einen tollen Tag und fuhr wie ein
Seifenkistenprofi. Allmählich holte er wieder auf und war wieder direkt hinter
Legau. Die Strecke war sehr holprig dieses Jahr und die vielen Hubbel rüttelten
die Fahrer stark durch. Bei einem dieser Hubbel hatte sich der Helm von Legau
etwas gelöst und wackelte wild hin und her. Als ob das nicht schon störend
genug war, schlug er auch immer wieder auf seine Brille, wodurch sie auch
verrutschte. Ohne Brille konnte Legau nicht gut sehen und so kam es, dass er
das Überholmanöver von Jona zu spät erkannte und kurz vor der Ziellinie seine
Führung und damit das Rennen verlor. Als sein Wagen zum Stillstand gekommen
war, stieg er aus und schimpfte laut vor sich hin. Mit diesen Schimpfworten
hätte er drei Schimpfwortwettbewerbe gewinnen können. Aber es dauerte nicht
lange, da war der Ärger verflogen und er ging zu seinem Freund Jona.
„Jona,
herzlichen Glückwunsch. Du bist ein tolles Rennen gefahren. Danke, dass du den
Unfall verhindert hast.“
„Ach
weißt du, Legau, dann wäre das Rennen ja für uns beide zu Ende gewesen. Und
wenn dein Helm nicht gewackelt hätte, hätte ich dich vielleicht auch gar nicht
überholen können.“
„Na
ja, so hat es sich eben ausgeglichen und der bessere Fahrer hat gewonnen.“
„Hör’
`mal, Legau, heute Abend ist doch wieder das Seifenkistenrennen-Fest. Wie jedes
Jahr feiert das Dorf des Siegers seinen Fahrer mit einem tollen Grillfest,
vielen leckeren Getränken und einem unglaublichen Nachtischbuffet. Es ist zwar
nicht üblich, den Verlierer einzuladen, aber ich möchte, dass du heute dabei
bist. Du bist doch mein bester Freund!“
Zuerst
wusste Legau gar nicht, was er sagen sollte, aber dann freute er sich sehr über
die Einladung. Es wurde ein tolles Grillfest und schnell spielte es auch keine
Rolle mehr, wer eigentlich das Rennen gewonnen hatte. Legau und Jona freuten
sich beide schon auf das Rennen im nächsten Jahr.
AB, Frankfurt, den
10.06.2005