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Das Gespenst in der Kirchturmuhr

Von Axel Baumgart

 

Legau's Oma kannte die Geschichte von Ihrer Oma, und diese wiederum von ihrer Oma. Keiner wusste mehr genau, wann die Geschichte zum ersten Mal erzählt worden war, und ob sie überhaupt stimmte. Aber alle glaubten daran, dass sie wahr war. Genauso fest glaubten sie daran, wie sie daran glaubten, dass es in Bregenbrett mehr und stärker regnete als in Drögenbröt. Und daran glaubten sie ganz, ganz fest. Und heute würde Legau die Geschichte vom Gespenst in der Kirchturmuhr zu ersten Mal hören. Nach dem Mittagessen, denn solche Geschichten erzählte man Kindern nicht abends, wenn es schon dunkel wird, setzte sich seine Oma zu Legau an den Tisch. Ganz unerwartet fragte sie: "Hast Du schon vom Gespenst in der Kirchturmuhr gehört?" Legau hatte etwas gehört, aber nichts genaues. Deshalb antwortete er unsicher:" J-Ja ?" "Aber kennst Du auch die ganze Geschichte?" "N-Nein?" "Da sagte die Oma: "Du bist jetzt alt genug. Ich werde sie Dir erzählen. Setz Dich einmal neben mich und sei ganz ruhig." Die Oma nahm Legau in den Arm und fing an:

"Vor vielen, vielen Jahren, als es noch gar keine Gummibärchen gab, und als die Autos noch keine Autos waren und von Pferden gezogen werden mussten, da ist in Bregenbrett etwas passiert. Damals lebte in Bregenbrett ein Mann mit dem Namen Gustav Spenst. Seinerzeit passierte es, dass die Menschen hin und wieder Sachen vermissten und nicht wieder finden konnten. Mal fehlte eine Socke von der Wäscheleine, mal fehlte eines der 5 Sonntagsfrühstücksbrötchen, ein anderes mal fehlten ein paar Figuren aus dem Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel. Es waren nie große Sachen, auch keine teuren, aber immer war es sehr ärgerlich. Was soll man mit einem Paar Socken, von dem einer weg ist. Man bekommt doch nur einen kalten Fuß. Allmählich ärgerten sich die Bregenbretter immer stärker über diese kleinen Diebstähle, bis sie richtig wütend waren auf den unbekannten Dieb. Allen war schon irgendetwas weggekommen. Allen außer, ja, allen außer Gustav Spenst. Er hatte immer alles, oder vermisste zumindest nie etwas. Je länger die Menschen darüber nachdachten, umso mehr glaubten sie sich zu erinnern, dass Gustav auch immer in der Nähe gewesen war, wenn etwas weggekommen war. Niemand konnte sich mehr erinnern, wie es kam, aber irgendwann waren sich alle sicher, dass Gustav der Dieb sein musste. Da trafen sie sich alle auf dem Dorfplatz und beschlossen, dass Gustav das Dorf verlassen musste und nicht wieder kommen durfte. Einen Dieb wollten sie in Bregenbrett nicht haben. An dem Tag, als Gustav Spenst das Dorf verließ, drehte er sich an der Dorfgrenze um und sagte: 'Ich habe nie etwas gestohlen. Jetzt gehe ich, aber ich komme wieder. Als G.Spenst. Und dann nehme ich Euch wirklich etwas weg. Und zwar das, was Euch am wertvollsten ist: Eure Zeit!' Die Leute lachten und glaubten ihm nicht. Nach ein paar Wochen stellte sich aber heraus, das Gustav tatsächlich unschuldig gewesen war. Man fand den Bau eines kleinen Waschbären, und da waren alle Sachen drin, die im Laufe der Zeit weggekommen waren. Der Waschbär hatte die Sachen gemopst. Jetzt war es natürlich zu spät sich bei Gustav zu entschuldigen, denn der war ja weg und hatte auch nicht gesagt, wo er hingehen wollte. Seit dieser Zeit warten die Menschen in Bregenbrett darauf, dass G.Spenst wieder kommt, sich in den Kirchturm und hinter die Kirchturmuhr schleicht und den Bregenbrettern die Zeit stiehlt."

Legau hatte ganz still zugehört und ihm war ganz flau im Bauch. Was für eine unglaubliche Geschichte. Aber zum Glück war mit der Kirchturmuhr ja alles in Ordnung. Sie war ja erst für den Schimpfwortwettbewerb überprüft und gestellt worden.

Die Tage vergingen, ohne dass etwas Außergewöhnliches passierte, und Legau dachte immer seltener an die unglaubliche Geschichte vom Gespenst in der Kirchturmuhr und dem Zeitdiebstahl.

Es ging Legau jetzt wie allen in Bregenbrett, er kannte die Geschichte, aber je länger es her war, dass er sie zum ersten Mal gehört hatte, umso mehr musste er darüber lächeln, wie sehr sie ihn gegruselt hatte. Er glaubte jetzt ganz fest, dass es nur eine Geschichte war, um kleine Kinder zu erschrecken. Er wollte aber nicht mehr zu den kleinen Kindern gehören und sich auch nicht von solchen Geschichten erschrecken lassen.

Trotzdem, ohne es zu merken, schaute er jetzt doch öfter zur Kirchturmuhr, und wenn es auch nur deshalb war, um ganz sicher zu sein, dass sie richtig ging. Und jedes Mal, wenn er feststellte, dass seine Armbanduhr ein paar Minuten nachging, stellte er sie sofort richtig, damit sie auch immer genau die gleiche Zeit zeigte, wie die große Uhr am Kirchturm. Alle Leute taten das. Früher war ihm das nie aufgefallen. Aber jetzt bemerkte er es. Oft blieben die Menschen stehen, schauten hoch zum Kirchturm, blickten auf ihre Uhren, sahen sich gegenseitig an, sagten kein Wort, schüttelten ganz leicht den Kopf, stellten ihre Uhren und gingen weiter. Wie gesagt, früher war das Legau nicht aufgefallen, aber durch die Geschichte war Legau viel aufmerksamer geworden. Jetzt bemerkte er sogar ab und zu kleine Gruppen, die miteinander diskutierten, bevor sie ihre Uhren stellten.

Eines Abends, Legau sollte schon lange im Bett sein und schlafen, war aber noch einmal aufgestanden, um ein Glas Apfelsaft zu trinken, hörte er ein Gespräch zwischen seiner Mutter und seinem Vater:

" ... das haben alle gemerkt. Jede Uhr musste gestellt werden."

"Ja, das ist sehr seltsam, dass plötzlich keine Uhr mehr richtig gehen soll. Komischer ist noch, alle Uhren, ohne jede Ausnahme, gehen seit ein paar Wochen nach!"

"Seltsam, seltsam. Durch die ganze Verstellerei der Uhren ist es jetzt zum Mittagessen noch dunkel, und wenn wir ins Bett gehen, steht die Sonne hoch am Himmel. Uns fehlt ein ganzer halber Tag. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen."

Es gab eine lange Pause, in der Legau eine furchtbare Gänsehaut bekam, weil er sofort an das Gespenst denken musste. Er schlich zurück ins Bett und konnte gar nicht einschlafen, weil es noch so hell war und weil er immer an die Geschichte denken musste.

Am nächsten Tag hatten sich alle Erwachsenen und die vier Kinder auf dem Dorfplatz versammelt und schauten hoch zur Kirchturmuhr. Heute war es ganz schlimm. Fast eine Stunde war der Zeitunterschied. Nach einer Weile des ratlosen Schweigens sagte einer:

"Da muss 'mal einer nachsehen. Vielleicht ist die Uhr ja ... kaputt." Und alle dachten: "Ja, gespenst-kaputt."

"Wer soll denn da hochgehen", rief einer.

"Der Bürgermeister!" - "Der kommt mit seinem dicken Bauch doch gar nicht die Treppe rauf."

"Der Lehrer, der ist der schlaueste." - "Aber hilft das bei einem Gesp..., bei einer kaputten Uhr?"

"Der Schuhmacher, der ist der Stärkste." - "Ja, der Schuhmacher soll nachsehen.", riefen alle und Lothar Leder zuckte zusammen. Was sollte er nur tun, bei einem ..., bei einer kaputten Uhr? Nach einigen Diskussionen  und viel gutem Zureden hatten die anderen ihn aber doch soweit. Er holte aus seiner Werkstatt den größten und schwersten Schuh, nahm in die rechte Hand und ging auf den Kirchturm zu. Anfangs noch recht flott wurde er immer langsamer, je näher er kam. Die Bregenbretter hielten den Atem an. Langsam öffnete er die Tür zum Kirchturm und verschwand im Eingang. Leise fiel die Türe hinter ihm zu. Alle Bregenbretter nahmen sich an die Hand und warteten. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Es war mucks-mäuschen-still, als er wieder herauskam. Ohne ein Wort zu sagen, ging er auf seine Freunde zu. Dann fing er an, laut zu lachen. Die Bregenbretter sahen ihn an und verstanden nichts. Lothar Leder lachte und lachte. Als er wieder Luft bekam, sagt er:

" Eine Maus. Ein kleines Mäuschen. Es lebt da oben. Mit seinem kleinen Pfötchen hat es das Uhrwerk verstellt. Wir müssen dem Mäuschen nur ein neues zuhause geben und die Uhr neu stellen." Jetzt lachten die anderen auch. Sie lachten, weil sie so erleichtert waren. Wie hatten sie nur etwas anders denken können. So endet die Geschichte vom Gespenst in der Kirchturmuhr. Zumindest für heute ...

 

FFM, 30.07.2004 AB

 

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