Der
Alleskönner
Von Axel Baumgart
„Louisa war 5 Jahre alt, fast schon 6.
Ihr Bruder hieß Nils und war 3. Louisa hatte viel Phantasie und sehr geschickte
Hände. Sie liebte es zu basteln, zu malen, Sachen auszuschneiden und wieder
zusammen zu kleben. Jedes Mal, wenn man sich die wunderbaren, fertigen Dinge
ansah, mochte man es fast nicht glauben. Alle diese tollen Sachen bestanden im
Grunde nur aus Papier, Pappe, Klebstoff und Farbe.
Heute wollte Louisa das Größte bauen,
was sie jemals gebaut hatte. Ihr kleiner Bruder Nils war ein begeisterter
Freund von Baggern, Traktoren und allen großen Maschinen dieser Art. Jede
dieser Maschinen konnte irgendetwas besonders gut. Louisa würde heute aber für
ihren Bruder eine Maschine bauen, die alles konnte: Den Alleskönner.
Der Alleskönner würde ihnen helfen,
ihre Zimmer aufzuräumen, indem er mit nur einer einzigen Schaufelbewegung alle
herumliegenden Sachen unter das Bett schob. Es würde mit ihm viel einfacher
werden, gegenüber im Garten der Familie Engel die Birnen vom Baum zu pflücken.
Er würde Papa helfen, die Erde vom Rosenbeet aufzulockern und im Winter würde
er die Einfahrt vom Schnee befreien. Ja, es würde ein echter Alleskönner
werden.
Die Alleskönnerschaufel baute Louisa
aus zwei großen harten Schuhkartons, die sie fest zusammenklebte. Da passte
schon eine ganze Menge rein. Als Räder verwendete sie die großen Deckel von
Mamas alten Waschmitteltonnen. Die waren groß und stabil genug, um den
Alleskönner sicher durch die Gegend zu fahren. Das Führerhaus wurde aus dem
Karton gemacht, in dem letzte Woche der neue Fernseher gekommen war. Der
Alleskönner brauchte nur noch ein gutes Lenkrad. Das war ein Problem. Louisas
Haarreif war nicht rund und hatte außerdem spitze Zacken. Aber Louisa hatte
eine prima Idee: Sie legte einen großen Suppenteller verkehrt herum auf ein
Stück dicke Pappe, das sie in ihrem Zimmer gefunden hatte. Mit einem Stift zog
sie einen kreisrunden Strich um den Teller herum, nahm den Teller weg und
schnitt mit einer speziellen Kinderschere den Kreis aus. Ein perfektes Lenkrad.
Der Alleskönner funktionierte schon
gut, sah aber noch ziemlich langweilig aus. Nur grauer Karton. Louisa holte
ihre Spezialfarben hervor und schon bald glänzte die Schaufel in strahlendem
Silber wie bei einem fabrikneuen Bagger. Wenn man hineinsah, konnte man sein
eigenes Gesicht erkennen. Die Räder wurden tiefschwarz, wie die Reifen eines
richtiges Traktors. Das Führerhaus aber machte Louisa knallrot, damit man den
Alleskönner immer von weitem erkennen konnte. Das Lenkrad wurde gelb und blau
gestrichen. Der Alleskönner war eine wahre Pracht geworden. Wenn ihr kleiner
Bruder ihn sah, würde er vor Freude bestimmt ganz aus dem Häuschen sein. So
ähnlich war es auch.
Nils kam in Louisas Zimmer, sah den
riesigen, mächtigen, bunt leuchtenden Alleskönner und blieb mit offenem Mund
sprachlos davor stehen.
„Den habe ich für Dich gemacht“, sagte
Louisa.
Abwesend fragte Nils: „Dich?“
„Nein, das ist jetzt deiner, er gehört
Nils!“
„Nils?“ Langsam begann Nils zu verstehen.
„Meiner!“, sagte er, ging langsam auf das wunderbare Gerät zu und berührte es
vorsichtig. „Wie schön“, staune er.
„Jetzt musst du ihn aber auch einmal
ausprobieren. Schieb doch einfach alle Sachen, die auf dem Boden herumliegen,
unter mein Bett.“
Nils stieg auf ein Rad und kletterte
von dort in das hohe rote Führerhaus. Er schaute sich kurz um und wusste
sofort, wofür jeder einzelne Hebel und Schalter da war. Er kannte sich aus.
Schnell wie der Wind bewegte sich der Alleskönner auf und ab und bald war alles
aufgeräumt. Louisa und Nils waren sehr zufrieden. Der nächste Test würde
schwieriger werden. Sie brachten den Alleskönner in Engels Garten. Dort stellte
sich Louisa in die Schaufel und Nils ließ die Schaufel nach oben fahren. So
hofften sie, besser an die leckeren Birnen am Birnbaum zu kommen. Aber die
Birnen hingen immer noch zu hoch. Ganz vorsichtig, um die Rinde des Baumes
nicht zu verletzen, schubste Nils den Baum mit der Schaufel etwas an. Louisa
wäre fast heraus gefallen. „Moment“, rief sie, „lass mich zuerst aussteigen“,
und sprang aus der Schaufel. Wieder versuchte es Nils, diesmal etwas stärker.
Zwei Birnen fielen vom Baum auf den Boden. Ein paar Minuten später waren viele
Birnen vom Boden aufgesammelt worden und die Alleskönnerschaufel war voll mit
dicken, saftigen Birnen. Louisa hatte wirklich eine tolle Maschine gebaut.
Nachdem sie die Hälfte der Birnen
gegessen hatten, wollten sie noch schnell Papa helfen, der im Garten am
Rosenbeet arbeitete. Mit Vollgas fuhren sie auf das Rosenbeet und Papa zu. Sie
waren fast da, aber was war das? Die Bremse funktionierte nicht mehr. Eine
Birne hatte sich in den Bremsseilen verklemmt und so raste der Alleskönner
ungebremst in das Rosenbeet. Papa konnte sich in letzter Minute mit einem
großen Sprung in die Erdbeeren retten. Aber die Rosen bekamen ganz schön was
ab, als die schwere Maschine durch sie hindurchbrauste. Papa brachte den
Alleskönner zum Stillstand und schimpfte fürchterlich. Jetzt konnte er mit dem
Rosenbeet wieder von vorne anfangen. Louisa schaute Nils aus den Augenwinkeln
an. Das war ganz schön in die Hose gegangen.
Papa schloss den Alleskönner in der
Garage ein, und sagte Louisa und Nils, dass sie nicht mehr darauf fahren
dürften, bis sie groß genug dafür seien. Und überhaupt sei das ja alles eine Schnapsidee
gewesen . ..“
Louisa schaute sich um und wunderte
sich, dass sie nicht mehr im Garten war, und dass kein Papa da war, der
schimpfte. Über ihr im Etagenbett hörte sie das regelmäßige Atmen von Nils.
Louisa wurde langsam richtig wach und ihr wurde klar, dass alles nur ein Traum
gewesen war.
„Wie schade! Es wäre wirklich schön
gewesen. Das war schon ein tolles Gerät,“ dachte sie.
Sie stand auf, ging ins Badezimmer und
nahm sich fest vor, später, wenn sie größer war, einen echten Alleskönner zu
bauen.
AB, FFM, 10.01.2005